Ein Angehöriger ist betroffen.
Am Anfang habe ich geglaubt, es sei ganz normal, wenn sie am Abend ein oder zwei Gläser Wein trank – jeden Abend. Da ich keinen Alkohol trinke, wusste ich auch nicht, wo die Normalität aufhört und wo die Gefahr beginnt.
Ich bin kein Mensch, der es sich bequem gemacht hätte. Der einfach wegschaute und sich einredete, dass sich nichts veränderte. Dass sie sich nicht veränderte. Aber ich spürte eine Empfindlichkeit von ihr, wenn das Thema auf ihr Trinkverhalten kam. Um so mehr ich aber darüber sprach, um so mehr fühlte sie sich kontrolliert, ertappt. Sie ging dem aus dem Wege, indem sie begann Wodkaflaschen zu verstecken.
Wodka trank sie deshalb, weil sie gehört hatte, dass man das Zeug nur schwer riechen konnte. Die erste Flasche fand ich zufällig. Mit ihr hatte ich eine Erklärung für ihr merkwürdiges Verhalten. Sie vergaß und verlor vieles.
Sie stritt um Kleinigkeiten. Sie war ständig gereizt. Die Verstecke wurden immer raffinierter. In Blumenkübeln, in Stiefeln, hinter Wäschestapeln. Fünf Flaschen fand ich innerhalb einer halben Stunde. Nicht mehr zufällig. Ich suchte jeden Tag. Wir redeten über unser Problem und natürlich wollte sie aufhören. Ein, zwei Tage, manchmal ein paar Wochen ging es gut. Dann änderte sich ihre Aussprache und die Gangart. Der Kreislauf war schuld.
Oder ich sah Gespenster.
Dann eines Nachts schreckte ich hoch. Ich war am ersticken. Mund und Nase waren vollkommen blockiert.
Panik erfasste mich. Ich war mir sicher, ich müsste sterben. Als sich ein Atemloch, so groß wie ein Strohalmdurchmesser im Hals bildete, saugte ich zitternd das bisschen Luft ein. Im Krankenhaus stellte man nichts organisches fest. Der Arzt fragte mich, ob ich zurzeit seelische Probleme hätte. Mir wurde klar, was ich schon wusste. Ich kann dieses Problem nicht länger herunterschlucken. Ich konnte daran ersticken.
Zu ihrem schlechten Gewissen wegen des Alkohols kam nun noch das Gefühl, schuld an meinen Ängsten und meiner Verfassung zu sein. Ein Grund zum Trinken. Die Pausen zwischen den Trinkanfällen wurden geringer.
Als ich dann zu ihr sagte, dass sie, wenn sie mich liebte, aufhören muss, fragte ich mich selbst, ob ich sie noch liebte. Die Antwort war ganz einfach. Ich liebte sie sehr und das würde sich auch niemals ändern.
Aber sie war wie zwei Personen. Die
„Normale Frau“ und die Andere, die sich zerstörte. Die Andere konnte ich nicht lieben. Ich konnte es teilen. Aber die Angst war da. Würde die Andere gewinnen und endgültig die „normale Frau“ auslöschen?
Dann eines Morgens lallte sie und konnte ihren Blick nicht mehr kontrollieren. Ich hatte die Nerven nicht mehr, um richtig zu reagieren. Ich machte ihr klar, dass es reicht, wenn sie sich zerstören will, ich wollte leben. Ich dachte laut über eine Trennung nach. Sie sagte mir, dass es wohl die einzige Möglichkeit wäre. Sie glaubte es nicht mehr zu schaffen. Dann wollte sie unbedingt allein ein paar Schritte ums Haus gehen. Als die Tür zuschlug, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich suchte sie. Nach einer dreiviertel Stunde stand ein Polizist vor der Tür. Sie hatte versucht sich zu töten. Zum Glück war sie zu betrunken, um das zu schaffen.
So schrecklich dieser Moment war, es war der Anfang. Sie begann einen schweren Weg zu gehen. Entgiftung, Rückfall, Klinik, Rückfall. Dann die Langzeittherapie. Noch ein Rückfall. Diesen Rückfall aber konnte sie anders sehen. Sie war nur gestürzt, aber sie blieb nicht mehr liegen. Sie stand auf, stärker als je zuvor.
Über ein Jahr ist sie nun trocken. Sie hat eine Selbstsicherheit gefunden und sie hat Hilfe gefunden.
Jeden Montag geht sie zur Selbsthilfegruppe WHU. Ich bin fast immer dabei. Denn es ist immer noch unser gemeinsames Problem. Die Angst bleibt. Aber diese Angst ist nicht panisch, sondern warnend.
Sollte es zu einem Rückfall kommen, braucht sie nicht von vorn zu beginnen. Sie wird wieder aufstehen. Als ich kaum noch Hoffnung hatte, konnte ich mir die Zukunft nicht mehr vorstellen. Ich genieße jeden Tag und bin für jeden Tag ohne Alkohol unendlich dankbar.
Fragebogen für Angehörige, Freunde, Kollegen