Sabine G. (Angehörige) – Aufgegeben

 

 

 

Sabine G. (Angehörige) – Aufgegeben

 

Vor zwei Jahren habe ich endgültig aufgegeben. Nach 25 Jahren Ehe konnte ich nicht mehr. Ich hatte nicht mehr die Kraft dazu.

Doch der Reihe nach: Als ich meinen Mann 1975 kennenlernte, hat er bereits täglich mehrere Biere getrunken. Aber ich glaube nicht, dass er zu dieser Zeit schon abhängig war. Wir heirateten und unsere Kinder wurden geboren. Es hätte alles so schön sein können …

Aber immer war da der Alkohol. Etwa 1990/91 ist dann irgendetwas gekippt. Er zog sich vollständig aus dem Familienleben zurück, saß stunden- ja tagelang in seiner Kammer, interessierte sich immer weniger für seine Familie.

Wir hatten bald kaum noch Kontakte nach draußen, auf Familienfesten fing er spätestens um 21.00 Uhr anzudrängen, er wolle nach Hause. Ich war einmal spät abends unterwegs und habe gefragt, ob er mich mit dem Auto abholen könnte, seine Antwort war: Nein, dann kann ich ja kein Bier trinken. Ich habe ihn nie wieder gefragt. Auch als unsere Tochter anfing zur Disco zu gehen, war er wegen seines Bieres nicht bereit, sie abzuholen.

Wenn die Kinder Probleme hatten, kamen sie nur noch zu mir. Und ich meinte, Vater und Mutter sein zu müssen. Nach und nach habe ich alles, was zu regeln war, allein geregelt. Mehr und mehr habe ich alles, was zu entscheiden war, allein entschieden. Er war ja sowieso nicht ansprechbar. Damit war ich auf die Dauer aber komplett überfordert.

Ich habe Literatur über Alkoholismus mitgebracht und sie ihm hingelegt. Er hat nichts davon gelesen. 1994 habe ich mit einer Suchtbeauftragten lange Gespräche geführt. Sie riet mir, in eine Selbsthilfegruppe zu gehen. Leider hat sie mir nicht gesagt, wie mir eine solche Selbsthilfegruppe hätte helfen können. Damals habe ich mich nur gefragt, was mir das nützen soll, dadurch ändert sich doch nichts bei meinem Mann. Und er veränderte sich.

Von dem Mann, den ich geheiratet hatte, der fröhlich und ironisch sein konnte, der ein schlagfertiger und intelligenter Gesprächspartner war, blieb nichts mehr übrig. Er wurde grüblerisch, gehässig und launisch, ja sogar aufbrausend. Beim kleinsten Anlass schnauzte er die Kinder oder mich an. Gesprächen verweigerte er sich mehr und mehr. Dazu kam sein immer stärkeres Selbstmitleid. Niemand ist für ihn da, wenn er jemand braucht. Wörtlich: Er ist ja sowieso nur der letzte Arsch …

 

Die Kinder kamen oft und sagten, der Papa ist ja schon wieder betrunken. Und wie jede Co-abhängige habe ich beschönigt, vertuscht und verharmlost. Der Papa hatte einen schweren Tag, habe ich gesagt. Oder: er ist momentan sehr im Stress, deshalb verträgt er nichts. Aber die Wut wurde immer stärker. Die Wut auf mich, dass ich begann, meinen Mann zu verachten. Die Wut auf ihn, dass er kein Partner mehr war,

dass wir nicht mehr miteinander reden konnten. Und Hilflosigkeit. Bin ich schuld an seinem Trinken? Was habe ich falsch gemacht? Und am schlimmsten die Frage: Wie muss ich sein, damit er nicht mehr trinkt?

Ich habe erst sehr spät und nur durch Zufall mitbekommen, wie viel er eigentlich wirklich trinkt. Da ich die letzte war, die abends nach Hause kam, hat mein Mann mit meiner Tochter den Einkauf erledigt. Irgendwann sagte sie mal zu mir: Ihr verbraucht drei bis vier große Flaschen Schnaps in der Woche. Ich dachte, mich trifft der Schlag.

Von diesen Flaschen habe ich gelegentlich mal ein oder zwei Glas abends getrunken. Wo blieb der Rest? Und dann habe ich ihn unbeabsichtigt beim heimlichen Trinken erwischt. Bevor er mit unseren beiden Gläsern ins Wohnzimmer kam, hat er in der Küche mal schnell zwei oder drei allein gekippt.

 

Es gab dann eine heftige Aussprache mit der ganzen Familie. Meine Tochter fragte ihn, warum er keine Therapie machen wollte. Seine Antwort war: Er könne sich eine Therapie beruflich nicht leisten und überhaupt mache er keine „Entziehungskur“. Aber wir vereinbarten wenigstens, dass es bei uns zu Hause keinen Alkohol mehr gibt. Für vier oder fünf Monate hat er sich, glaube ich, wirklich daran gehalten. Dann zog meine Tochter aus. Mein Sohn, der drei Jahre jünger ist, hatte zu dieser Zeit das Problem noch nicht voll erkannt. Kurz nach dem Auszug der Tochter forderte mein Mann dann, abends wieder ein Bier trinken zu können. Mir war aus der Erfahrung der ganzen Jahre klar, dass das nicht gut gehen kann. Aber mein Sohn war der Meinung, dass ich ihm das nicht verbieten könne. So hatte ich keine Chance. Natürlich blieb es nicht bei einem Bier …

Alles in allem hat es elf Jahre Kampf um meine Ehe gekostet, bis ich mich von meinem Mann getrennt habe und ausgezogen bin. Mein Sohn hat danach mal zu mir gesagt: Eine Familie waren wir doch schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr. Das hat verdammt weh getan. Aber es ist leider die Wahrheit.

Was bleibt, ist Wut und Trauer. Trauer um viele verschenkte Jahre. Wut auf mich selbst, weil ich viel zu lange stillgehalten habe. Wut auf meinen Mann, weil er seine Familie gegen die Flasche eingetauscht hat. Inzwischen habe ich gelernt zu unterscheiden: Dass mein Mann Alkoholiker ist, war nicht das Problem. Dass er nichts dagegen tun wollte, das werfe ich ihm vor.

 

Aber ich habe jetzt auch eine neue Freiheit. Die Freiheit, meine Kraft wieder nur für mich allein zu haben, mich um mein eigenes Leben zu kümmern. Meine Kinder sind erwachsen und sie sagen: Dass wir so geworden sind, wie wir sind, das haben wir vor allem Dir zu verdanken.

Und mein Mann? Er versteht die Welt nicht mehr und trinkt nach wie vor...


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